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Poesie auf Adrenalin

Boulderwand und Slackline im Haus der Berliner Festspiele? Auf den ersten Blick verströmt die noch leere Bühne eine eher nüchterne Sporthallen-Atmo. Doch eine Stunde später wird vor genau diesem Setting das Publikum begeisterte Standing Ovations geben. Das hat vor allem mit der einzigartigen Mixtur von „Corps extrêmes“ zu tun. Denn der französische Choreograf Rachid Ouramdane erweckt mit dem Hybrid aus Akrobatik, Tanz und Hochseil-Performance eine faszinierende Welt zum Leben. Eine, die vom Überwinden der Schwerkraft erzählt, vom menschlichen Wunsch an Grenzen zu gehen und Freiheit zu spüren. 

 

Nathan Paulin ist jemand, der sich ziemlich gut auskennt mit dem Ausloten von Grenzen. Der französische Highline-Weltrekordhalter ist in den ersten Minuten des Stücks in einem Video zu sehen, das ihn in Aktion zeigt. Und die treibt allein beim Zusehen die Adrenalinkurve nach oben. Auf einem wenige Zentimeter breiten Band in rund hundert Metern Höhe über eine Bergschlucht hinwegzubalancieren, sich dabei hinzulegen oder in den Schneidersitz zu gehen – das ist mit Sicherheit eine Erfahrung, die er mit ganz wenigen Menschen auf diesem Planeten teilt. Die potenzielle Fallhöhe, der sich das Ensemble von „Corps extrêmes“ aussetzt, ist damit schon mal markiert. Denn auch die zweite Extremsportlerin im Cast, Nina Caprez, geht mit körperlicher Selbsterfahrung ans Limit. Als Schweizer Klettermeisterin ist sie beim  Bezwingen der Vertikalen in ihrem Element. Zwei Sport-Profis und acht Akrobat:innen: Kommt jetzt eine reine Leistungsshow, die sich vor allem am Spektakulären berauschen will?

 

Sicher, zirzensisch-funkelnd und mit geradezu stupender Leichtigkeit kommen die gewagten Hebefiguren, Wurf- und Flugnummern daher. Aber die Aktionen, die die zehnköpfige Truppe an, über und vor der Kletterwand vollführt, entfalten noch viel mehr. Wenn drei Performer:innen übereinander als Menschenturm über die Bühne rennen, wenn sich aus der Höhe in einen Pulk nach unten gestürzt wird, wenn aus den Körpern immer wieder neue schwerkrafttrotzende Skulpturen entstehen, dann wird klar: Nur wenn man als Kollektiv funktioniert, kann man solche physischen Ausnahmeleistungen vollbringen. Über dieses achtsame Miteinander legt sich dann auch eine zarte Schicht der Poesie, weil Perfektion und Zerbrechlichkeit in dem Moment so nah beieinanderliegen. Und manchmal mündet die Risikolust auch in Angst und Zweifeln, wie eine Performerin aus dem Off erzählt, die nach der Erfahrung eines Sturzes fast mit der Akrobatik aufgehört hätte.

 

Dieses Grenzgängertum, das sich menschlich transparent macht, feiert das Publikum am Ende der 60 Minuten von „Corps extrêmes“ mit frenetischem Applaus. Absolut verdient!

 

Text: Annett Jaensch