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Ein langes Ausatmen

Wenn man es in die Liga der lebenden Legenden geschafft hat, dann umweht einen fast automatisch eine Art Popstar-Nimbus. William Forsythe, Jahrgang 1949, sorgt in der Tanzwelt für genau diese Mischung aus Ehrfurcht und Vorfreude. Und so war bei der Premiere in der Deutschen Oper die erwartungsfrohe Stimmung förmlich mit Händen greifbar. Hat die Zusammenstellung aus drei Stücken aus drei Jahrzehnten überzeugt? Absolut! Allerdings sollte man für diesen Triple-Bill-Abend die retrospektive Brille aufsetzen: „Approximate Sonata 2016“, „One Flat Thing, reproduced“ und „Blake Works I“ funktionieren sehr gut als Zeitreise und Hommage an Forsythe als Ballett-Erneuerer. Die ganze Bandbreite der zeitgenössischen Experimentierwucht, die seine Arbeit als langjähriger Compagnie-Direktor in Frankfurt eben auch auszeichnete, lässt sich nur – oder sagen wir besser immerhin - schlaglichthaft erahnen.

 

„One Flat Thing, reproduced“ ist eine Kostprobe dessen, was Forsythe an radikalen Versuchsanordnungen erdachte. Aus dem Bühnendunkel stürmt ein Pulk an Tänzer:innen nach vorn, zwanzig Metalltische hinter sich herschleifend. Mit einem großen Rumms kommt das Ganze zum Stehen, nur um Sekunden später Schauplatz hyperrasanter Szenen zu werden. Springen, wirbeln, toben: Man müsste noch einiges mehr an Verben erfinden, um dem Mahlstrom an Bewegungen gerecht zu werden, der sich in dem geometrischen Areal aus Gängen und Flächen immer wieder neu formiert. Forsythe erzählte in einem Interview, dass bei der Ideenfindung für das Stück ein Buch des Polarforschers Robert Scott eine Rolle gespielt habe. Als „barocke Maschinerie“ habe dieser seine gescheiterte Südpol-Expedition beschrieben. Forsythe fand die Metapher so treffend, dass er eine dichte und kontrapunktische Architektur für den Tanz schaffen wollte. „One Flat Thing, reproduced“, das im Jahr 2000 vom Ballett Frankfurt uraufgeführt wurde, wirkt damit auch ein gutes Vierteljahrhundert später noch taufrisch.

 

Ein kongenialer Begleiter für Forsythes Forschungsdrang ist der Komponist Thom Willems. Seit 40 Jahren arbeiten die beiden Künstler zusammen und haben gemeinsam mehr als 65 Werke erarbeitet. Der experimentelle Industrie-Sound schafft zerklüftete Klanglandschaften, in denen sich die tänzerischen Bewegungsrecherchen bestens entfalten können. In „Approximate Sonata 2016“ ist es ein pochender, minimalistischer Score, der das Miteinander der Tänzer:innen untermalt und zeitlich aufzudehnen scheint. Wie ein langes Ausatmen muten die Pas de deux an, grandios getanzt etwa von Polina Semionova und Gregor Glocke. In kühler Präzision wird vorgeführt, mit welchen Mitteln Forsythe die klassische Formensprache des Balletts auflockert und bricht: mit minimalen oder maximalen Achsenverschiebungen, mit rasanten Verschraubungen und ungewohntem Partnering.

 

„Blake Works I“ ist – zumindest in musikalischer Hinsicht – der stilistische Ausreißer des Abends. Aber auch das ist Forsythe: immer für Überraschungen gut. 2016 für das Ballett der Pariser Oper konzipiert, zelebriert das Stück mit ironischem Augenzwinkern das Filigrane und Verspielte, das im Ballett wohnt. Die Tänzer und Tänzerinnen glühen förmlich vor Begeisterung, wenn sie ihre Formationen zur heiter-poppigen Musik von James Blake auf die Bühne tupfen. Alles bis hin zu den fedrigen Tüllkostümen in Himmelblau atmet pure Ballett-Attitüde. Wäre da nicht die Schicht subtiler Zitate, die Forsythe darüberlegt: kecke Hüftschwünge, Anflüge von Voguing und Halbrund-Aufstellungen, die entfernt an Hip-Hop-Battles erinnern. So organisch eingewoben, dass man zweimal hinschauen muss.

 

Das Fazit: Mit dem Forsythe-Abend hat das Staatsballett Berlin neue Farben dazugewonnen – mehr davon!