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Mensch Maschine

Das Erste, was in „Remachine“ zu hören ist, ist Gesang. Nicht irgendeiner. Kraftvoll, aus tiefster Kehle hervorgeholt, erhebt sich eine Frauenstimme, die Textfragmente zu einem Lamento zusammensetzt: I'm restless, I'm older, I'm heavy like a stone, forgiven, forsaken, I'm staring at my bones. Nach und nach stimmen auch die anderen Performer:innen in die neu arrangierte Version des Songs Ugly and Vengeful“ von Anna von Hausswolff ein. Es sind drei Frauen und zwei Männer. Sie sitzen auf dem Rand einer riesigen, rotierenden Scheibe, werden von ihr davongetragen, immerfort im Kreis gedreht, bis schließlich zwei von ihnen nur noch als leblose Masse mitgeschleift werden.

 

Die Eingangsszene umfasst bereits alles, was das Stück im Kern vermitteln will:
Eine menschgemachte Maschinerie walzt sich unaufhaltsam vorwärts, die Menschen selbst sind jedoch nur noch kleine Rädchen im Getriebe. Sehen wir hier den Homo sapiens technologicus, der unter die Räder seiner eigenen Kreationen kommt? Ist die 11-Meter-Scheibe in ihrer unerbittlichen Rotation Sinnbild für ein metaphysisches Kräftemessen, Mensch gegen Maschine und vice versa?

 

Jein, denn allzu direkt ablesbare Zuweisungen sind Jefta van Dinthers Sache nicht. Der niederländisch-schwedische Choreograf legt seine Stücke gern als Spielwiesen des Abstrakten an. In „Plateau-Effect“ aus dem Jahr 2013 ließ er das Cullberg Ballet in Interaktion mit einem gigantischen grauen Segel treten, um eine Gemeinschaft im Angesicht einer nahenden Katastrophe zu zeigen. Bei „Remachine“ wiederum habe ihn die Wechselwirkung zwischen dem Menschen und einer unausweichlichen hypermechanisierten Welt interessiert, so steht es im Begleittext zur Aufführung.

 

Wie die Grundidee dramaturgisch ausgekleidet wird, ist äußerst sehenswert. Denn mit der kreisenden Plattform dreht van Dinther auch immer wieder am Assoziationsrad. Da sind wogende Torsi zu sehen, die erst allmählich in die Vertikale finden. Werden wir gerade Zeugen eines Evolutionsprozesses? Oder die Gruppe robbt in repetitiven Mustern über die Scheibe, bis jede Bewegung zur Plackerei wird. Grüßt hier das Motiv einer ausbeuterischen Arbeit?

 

Und da wäre auch noch der Topos der allgegenwärtigen Technologie. Zum treibenden Sound von David Kiers scheint der Trupp sein Bestes zu geben, um das Tempo zu halten und den Fortschritt nicht zu bremsen, wohin auch immer er führen wird. Donna Haraway schrieb 1985 in ihrem Cyborg Manifesto: „Die Grenze zwischen Science Fiction und sozialer Realität ist eine optische Täuschung.“ Bis in welche Dimensionen sich das Denk- und Machbare heute schon verschieben lässt, erleben wir gerade mit KI, Transhumanismus und Co.

 

Das Stück „Remachine“ surft diese Bedeutungspole ab, indem es den polarisierenden Kräften auf der Bühne reichlich Raum gibt. Die Schlussszene jedenfalls passt wie ein Ausrufezeichen: Die Performer:innen halten sich an Seilen, bis Drehung und Fliehkraft sie über den Rand der Scheibe hinaus kippen lassen. Dazu singen sie den Song „The Truth, The Glow, The Fall”, das Bühnenlicht verlischt schließlich bei der mehrfach wiederholten Zeile „Will we fall?“. Gute Frage!

 

 Text: Annett Jaensch