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Flaneure der Dunkelheit

Fotoband: „Nachtwach Berlin“ von Ingo van Aaren und David Wager

Ist es nicht etwas widersinnig, einen Buchblog mit einem längst erschienenen Titel zu beginnen statt eine vielversprechende Neuerscheinung zu beleuchten? Klar, es gibt jede Menge literarische Perlen in den aktuellen Frühjahrsprogrammen der Verlage. Meine Wahl ist dann doch auf ein anderes Buch gefallen. Eins, das sich ganz langsam, über ein paar Jahre hinweg, in konzentrischen Kreisen angeschlichen hat. Um mir dann, mit Zeitverzug, einige der verblüffendsten Stadteinblicke überhaupt zu bescheren. In dem wahrlich ausgetretenen Kosmos der Berlin-Bespiegelungen will das schon was heißen.

 

 

Aber von vorn. Erstmalig aufmerksam auf ein Foto aus dem „Nachtwach“-Projekt wurde ich im zweiten Berliner Corona-Lockdown. Damals im Winter 2021 traf das Motiv die pandemiegelähmte Atmosphäre auf den Punkt: Ein Mann steht einsam und allein auf den zugigen Treppenstufen des Berliner Hauptbahnhofs, angeleint neben ihm eine Schildkröte, die gläserne Fassade hinter dem kuriosen Gespann erhebt sich dunkel-dräuend ins nächtliche Nichts.

 

Hauptbahnhof früh um vier: Beton und Glas und Leere (Foto-Credit: Ingo van Aaren)

 

Ausgedacht (allerdings schon vor der Pandemie) haben sich dieses Setting der Fotograf Ingo van Aaren und der Autor David Wagner. Die Idee, eine Schildkröte bei den nächtlichen Streifzügen im Schlepptau zu haben, kam dabei nicht von ungefähr. Um 1840 soll die Pariser Bohème, darunter Charles Baudelaire, mit Schildkröten durch die französische Hauptstadt flaniert sein, um einen Kontrapunkt gegen die hektische urbane Beschleunigung zu setzen. Damals zog die Industrialisierung das gesellschaftliche Tempo an, heute zerrt die Digitalisierung am individuellen und kollektiven Zeitkorsett.

 

Kulturforum am Potsdamer Platz: Tiefgarage oder Parallel-Universum? (Foto-Credit: Ingo van Aaren)

 

Diesen konzeptuellen Überbau kann man im Kopf mitschwingen lassen, muss man aber nicht, wenn man durch den Fotoband blättert. Parallel zum visuellen Input beginnt die Textebene, schnell ihre ganz eigene Dynamik zu entwickeln. Denn anders als Baudelaires Schildkröte, von der keine literarischen Einlassungen überliefert sind, ist das Berliner Exemplar nämlich eine höchst gesprächige Vertreterin ihrer Spezies. Und voilà, hier ist der erwähnte Zeitverzug: Die Zwiegespräche mit „Schildi“ habe ich erst viel später entdeckt, im Rahmen einer Ausstellung im Haus am Kleistpark im letzten Jahr.

 

„Fußgängertunnel sind so erniedrigend wie Krötentunnel.“

 

So wird das liebe Tier – Wagner und van Aaren lassen in Interviews augenzwinkernd offen, ob sie tatsächlich mit einem echten Exemplar oder einem Plastik-Double unterwegs waren – mal zum kess-vorlauten Sidekick, mal zur philosophierenden Kassandra, die schon alles gesehen hat und deshalb auch genau weiß, wohin die (Stadtentwicklungs)reise geht. Natürlich haben es nicht nur die schönen Ecken der Stadt, sondern auch die hässlichen ins Buch geschafft, wobei man oft, typisch für Berlin, nicht weiß, an welchem Ende des Spektrums man sich gerade befindet.

 

Ungewohnter Anblick: Oberbaumbrücke meets Chiaroscuro (Foto-Credit: Ingo van Aaren)

 

„Wenn du nicht brav bist, ziehe ich dich in die Mall of Berlin hinein.“

 

Früh um vier wirken alle Plätze – auch die hypertouristischen – wie leergesaugte Theaterbühnen. Wann sieht man die Oberbaumbrücke schon mal wie einen mittelalterlichen Kreuzgang, dessen Sichtachse sich geheimnisvoll in der menschenleeren Unendlichkeit verliert? Wem ist tagsüber schon mal bewusst der Betonzacken am Kulturforum aufgefallen, durch den die beiden Nachtwandler gehen wie durch das gleißende Tor eines Paralleluniversums? David Wagner und „Schildi“ wandern so ziemlich alles ab, was in Berlin von architektonischer Relevanz ist: vom ikonischen Haus der Kulturen der Welt über die hassgeliebten Flughafen-Gebäude der Stadt bis zu den brutalistischen Betonphantasien der Peripherie (zu Fuß über die Stadt-Autobahn A 100 geht in der Tat nur früh um vier...).

 

Lonely Travellers in der Ackerstraße (Foto-Credit: Ingo van Aaren)

 

„Glaubst du, Berlin hat eine? Eine Zukunft? Bisher ist immer eine gekommen.“

 

Keine Frage an einem Ort wie Berlin: Die abgelichteten Motive umweht per se der Wind der Weltgeschichte. Der immer auch Fußnoten produziert, die erfrischenderweise ebenfalls ihren Weg ins Buch gefunden haben. Schon mal was vom Führer-Krokodil gehört? Dem Lieblingsreptil Hitlers, das in einer Bombennacht aus dem Berliner Zoo entkam und angeblich mehrere Jahre in der Kanalisation lebte. Oder die Geschichte von der Neuen Nationalgalerie, die ursprünglich mal als Bacardi-Firmensitz für Kuba konzipiert war. Dann kam die Machtübernahme durch Fidel Castro dazwischen und Mies van der Rohe holte den gleichen Entwurf später nahezu unverändert für Berlin aus der Schublade.

 

„Nachtwach Berlin“ ist ein echter Booster für Berliner Entdeckerlust, ganz egal ob somnambul oder nicht!

 

 

Buchinformation:
I
ngo van Aaren und David Wagner: „Nachtwach Berlin“
Distanz Verlag, 2020
‎ISBN: 978-3954763559