· 

Von Licht und Schatten

Das Staatsballett Berlin zeigt neuen Doppelabend „Overture“

Ein Tänzer, einsam und allein, windet sich am Fuße einer riesigen Tempelsäule, die monolithisch in den tiefschwarzen Bühnenhimmel hineinragt. Sein zuckender Körper, ein Ausrufezeichen: Seht her, ein Mensch als Sandkorn im Weltgetriebe. Der spanische Choreograf Marcos Morau arbeitet in seinen Stücken gern mit Bildern voll symbolischer Wucht. Und „Overture“ läuft von der ersten Minute an geradezu hochtourig im visuellen Überwältigungsmodus. Der wiederum gespeist wird aus dem Effekt wohl orchestrierter Masse. Wie ein einziger Körper agiert das 36-köpfige Ensemble zu Beginn, wenn es als amorpher Pulk die Bühne entert. Es umfließt die zu dem Zeitpunkt noch am Boden liegende Säule, wogt hin und her, spaltet sich auf, findet wieder zusammen.

 

Um das Entstehen und den Niedergang von Gesellschaften gehe es in „Overture“, so erzählte Morau in einem Interview für das Begleitheft zum Stück. Eine Frage habe ihn besonders beschäftigt: „Was passiert, wenn es der neuen Generation nicht gelingt, zu überraschen oder Veränderungen einzuleiten?“. Ein Apokalyptiker ist der 42-Jährige deshalb aber noch lange nicht. Ganz im Gegenteil: Im Stück wird immer wieder das Motiv der transformatorischen Kräfte in Bilder gegossen. Etwa wenn die Tänzer*innen den Säulenkoloss aufrichten, gleichsam ein zivilisatorischer Akt, wie unter dem Brennglas ausgestellt.

 

Das Faszinierende an Moraus Stil ist der interdisziplinäre Zugriff. Von der Fotografie und vom Schauspiel kommend, hat er mit seiner eigenen Compagnie La Veronal ein ganz spezielles Markenzeichen geschaffen: surreale, fast filmisch anmutende Bühnenwelten, die oftmals die Pole Traum und Alptraum abtasten. Wie „Siena“, der hitchcockartige Trip in ein nächtliches Museum oder das von Luis Buñuel beeinflusste Trommelstück „Sonoma“, beide waren bei Tanz im August echte Publikumsrenner.

 

Sprühen auch die kreativen Funken mit dem Staatsballett? Ja, mit einem Aber. Die starken Bilder tragen das Stück zwar bis zum Ende, aber gerade durch das gewollt Offene driftet das kollektive Miteinander auch oft ins Ungefähre, etwa wenn in folkloristischen Kostümen Gruppendynamiken durchgespielt werden. Auch die Musikwahl ist eine zweischneidige Angelegenheit: Die drei Sätze aus Gustav Mahlers fünfter Sinfonie – klangedel gespielt von der Staatskapelle Berlin unter Leitung von Marius Stravinsky – geben den großen Gesten des Stückes ohne Frage den nötigen Rückenwind. Es gibt aber auch nicht wenige Momente, da scheint der Tanz keinen weiteren Facettenreichtum aus der Musik in Sachen Zwischentöne und Kontrapunkte schöpfen zu wollen (oder zu können).

 

Marcos Morau ist für drei Jahre artist in residence beim Staatsballett. Man darf auf jeden Fall gespannt sein, wohin die künstlerische Reise weiterhin gehen wird!

Tanz im Lichtgewitter, „Angels´Atlas“ von Crystal Pite, Foto: Serghei Gherciu

 

Im zweiten Teil des Abends gehört die Bühne „Angels´ Atlas“, kreiert von der kanadischen Choreografin und ehemaligen Forsythe-Tänzerin Crystal Pite. Und darin wird ein anderes Gespann überwältigend in Szene gesetzt: Tanz und Licht. Letzteres hat es wirklich in sich: Dank der speziellen Methode des Reflective Light Backdrops entstehen im Bühnenhintergrund magische Lichtgebilde, die ständig die Form ändern. Plastische Wolken, Funkennebel, Kristalleffekte, die Palette des Malens mit Licht scheint hier unendlich. In diesen Effektkosmos hinein entfaltet sich die Choreografie von Pite, die ebenfalls auf große Gruppenszenen mit dynamischer Körperarbeit setzt. Dazwischen eingebettet: fast lyrische Duette, die sich in die großen Lebensthemen hineinzulehnen scheinen – Lieben und Sterben, Werden und Vergehen. Auch wenn keine großen tanzstilistischen Überraschungen um die Ecke biegen, „Angels´ Atlas“ überzeugt durch die atmosphärische Dichte, die durch die requiemartige musikalische Untermalung (Owen Belton, Morten Lauridsen u.a.) noch verstärkt wird.

 

Das Premierenpublikum jedenfalls war am Ende aus dem Häuschen: begeisterte Standing Ovations minutenlang.