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Mystik pur in Norwegen

Eigentlich wollte ich im Juni hier auf dieser kleinen Plattform auf die Pausetaste drücken. Warum sollte ich auch ausgerechnet ein Textprojekt mit in den Norwegen-Urlaub nehmen? Dachte ich. Doch dann gesellte sich zu den ganz praktischen Reiseüberlegungen (Was tun bei Elchkontakt? Braucht man hektoliterweise Mückenspray auf dem 60. Breitengrad?) noch eine andere Frage: Was weiß ich eigentlich über die Literaturlandschaft meiner Destination?

 

Nachdenklichkeitsweltmeister, Verzweiflungsvirtuosen: An der norwegischen Belletristik klebt dieses Label wie ein hartnäckiger Kaugummi. Aber auffällig viele Titel transportieren genau das: dieses existenzialistische Grundrauschen, dieses Einwühlen in die Tiefen des Ichs, dieses Abarbeiten am eigenen Leben. Wenn man will, kann man sich durch ganze Regalmeter von Autofiktionalem lesen, bestückt vor allem durch Karl Ove Knausgård und Tomas Espedal (die sich inzwischen aber wieder von dem Genre verabschiedet haben).

 

Meine eigene norwegische Lesebilanz besteht aus knapp einer Handvoll Bücher, verstreut über mehr als fünfzehn Jahre (z.B. „Das Eis-Schloss“ von Tarjei Vesaas und „Lieben“ von Tomas Espedal). Beim gedanklichen Durchgehen wurde mir etwas Bemerkenswertes klar: Eigentlich haben alle Titel einen starken und vor allem bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Plots mögen im Detail verblassen, das Lesegefühl setzt sich aber wie Widerhaken in der Erinnerung fest. Wie schaffen die Norweger das? Warum wohnt hinter den Buchrücken so viel Atmosphäre?

Noch Platz im Rucksack?

Ein Feldversuch muss her: Warum nicht ein norwegisches Buch in Norwegen auf sich wirken lassen? Gesagt, getan: Zwischen Kofferpacken, quasi als Lastminute-Entscheidung, habe ich mir „Ein Leuchten“ von Jon Fosse besorgt. Der 64-Jährige ist einer der ganz Großen, dessen Theaterstoffe seit Jahren auf europäischen Bühnen hoch und runter gespielt werden, in Frankreich etwa wird er geradezu abgöttisch verehrt. Auch die Literaturkritik zeigte sich schon früh euphorisch, indem sie wahlweise einen neuen Ibsen oder einen neuen Beckett in ihm entdeckte. Im vergangenen Jahr erhielt der in Interviews immer etwas zurückhaltend und kauzig wirkende Fosse schließlich die ultimative Ehrung, den Nobelpreis für Literatur.

 

Vom Umfang und Inhalt klingt „Ein Leuchten“ erst mal nach einem urlaubstauglichen Begleiter: Nicht zu dick und keine allzu deprimierende Storyline. In dem rund 80 Seiten schmalen Band fährt ein Mann in den Wald und hat dort eine rätselhafte Begegnung. Finales Häkchen auf der Eignungsliste: Das kann auch jedem Touristen passieren. Unsere Seite eins als Norwegen-Reisende beginnt in Bergen. Wir lassen es in der statistisch gesehen regenreichsten Stadt des Landes erst einmal langsam angehen. Fosses Auftakt dahingegen ist an Rasanz nicht zu überbieten. Man hat noch nicht einmal umgeblättert, da ist der Protagonist schon voll in den Schlamassel geschlittert. Aus Langeweile hatte er beschlossen, sich in sein Auto zu setzen, ohne Ziel loszufahren und war auf diesem Waldweg gelandet. Um dort, was wohl, steckenzubleiben. Nichts geht mehr. Kein Vor und kein Zurück.

Bergen: Die Stadt, in der Nobelpreisträger studieren

Fosse, das hat mir Wikipedia verraten, hat in Bergen Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie studiert. Wollte man ihm groupiemäßig auflauern, um ein Nobelpreisträger-Autogramm zu ergattern, müsste man das allerdings in Oslo versuchen. Im dortigen Schlosspark bewohnt der Autor eine Wohnung in der staatlichen Künstlerresidenz „Grotten“, ein Ort für „verdiente Norweger“ wie es in der Beschreibung heißt. Groupiemäßiges Auflauern verschieben wir aber erst mal, zumal das im freundlich-zurückhaltenden Norwegen eventuell auch für Stirnrunzeln sorgen könnte. Außerdem zieht es uns nach dem kurzen Bergen-Abstecher in die legendäre Natur, deretwegen wir den Sommerurlaub überhaupt erst in den kühlen Norden verlegt haben.

Norwegische Landschaften: Permanenter Netzhautreiz

Auch bei Fosse spielt die Natur eine Hauptrolle, allerdings eine mystisch aufgeladene. In Interviews gibt er gern zu Protokoll, dass die Landschaft rund um den Hardangerfjord, in der er aufgewachsen ist, bis heute sein künstlerisches Schaffen beeinflusse. Auch habe ihn ein Nahtoderlebnis – mit sieben Jahren schnitt er sich so unglücklich in die Hand, dass er fast verblutete –  dazu gebracht, Schriftsteller zu werden und sich dem christlichen Glauben zuzuwenden. Die spirituelle DNA, die in seinen Texten steckt, wird mit diesen Infos im Hinterkopf auf jeden Fall greifbarer.

Aber wie geht es nun in „Ein Leuchten“ weiter? Unspektakulär, aber man ahnt schon, dass hier ein doppelter Boden eingezogen ist. Der namenlose Protagonist steigt aus dem Auto, läuft in den Wald, um Leute zu finden, die ihm helfen könnten; er setzt sich auf einen Stein; es fängt an zu schneien; er friert. Was furchtbar banal klingt, entwickelt bei Fosse eine Art außerweltlichen Sog. Er formt die Sprache geradezu musikalisch, arbeitet mit Wiederholungen, die sich zu einem Stream of Consciousness verdichten. In dem bald nicht mehr klar ist, wo die Grenzen von Realität und Phantasterei verlaufen:

                     „... Ich stehe ganz still. Als ob ich es nicht wagen wüde, mich zu rühren, stehe ich da.

                    Es ist jetzt so dunkel, wie es nur sein kann, und da vor mir sehe ich den Umriss von etwas, das einem Menschen ähnelt.

                    Einen leuchtenden Umriss, der immer deutlicher wird. Ja, einen weißen Umriss da in der Dunkelheit, dort vor mir. ...“

 

Mundal: Mekka der Second-Hand-Bücher unweit des Sognefjords

In Woche zwei unserer Reise formt sich bei mir eine weitere Frage: Wie lesefreudig sind eigentlich die Norweger und Norwegerinnen? Ein Beispiel für flammende Bibliophilie ist in dem verschlafenen Örtchen Mundal am Fjærlandsfjord zu bewundern. Gerade mal 280 Menschen wohnen an der einzigen Dorfstraße, die sich pittoresk am Fjordufer entlangschlängelt. Doch die Buchdichte ist enorm: Rund 150.000 gebrauchte Titel warten darauf, ein zweites Leseleben geschenkt zu bekommen. 1995 startete das Projekt, inzwischen füllen die Schmöker vier Kilometer Regallänge. Schöner Nebeneffekt für einen strukturschwachen Ort im ländlichen Raum: Verlassenen Gebäuden wurde neues Leben eingehaucht, wie dem Warteraum für die Fähre, einem Schweinestall, der ehemaligen Bank, dem Postamt und dem Lebensmittelladen.

 

Ein unerwartet mondäner Hauch weht einem entgegen, wenn man am „Hotel Mundal“ vorübergeht. Der weiße Prachtbau aus dem 19. Jahrhundert wird gerade renoviert. Deshalb konnten wir leider keinen Blick ins Innere werfen und nicht die Kronleuchter, Schaukelstühle und die alte Bibliothek bewundern, mit denen Jostein Gaarder, der Autor von „Sofies Welt“, ziemlich vertraut sein dürfte. Als Teenager soll er jeden Sommer in dem Hotel gejobbt haben. Übrigens findet um Mittsommer herum das traditionelle jährliche Buchfestival mit Lesungen und Konzerten statt. Dieses Event haben wir knapp verpasst und Mundal ziemlich ausgestorben erlebt, was aber auch am peitschenden Dauerregen an diesem Tag gelegen haben kann.

 

Während sich unsere Reise so langsam ihrem Ende entgegenneigt, steuert auch der Romanheld im letzten Drittel des Buches auf die Klimax zu. Und die Handlung macht dem Titel „Ein Leuchten“ auf den letzten Seiten alle Ehre! In den Lichterscheinungen, die er in der Tiefe des Waldes hat, erkennt er schließlich seine Eltern. Die ziemlich loriothafte Gespräche mit ihm führen: 

 

                        „...Meine Mutter sagt: warum stehst du nur da und sagst nichts – und sie sieht meinen Vater an, und sie sagt:

                        so sag was, warum stehst du nur da und schweigst, kannst du nicht reden, hat es dir die Sprache verschlagen,

                        du musst was sagen – und meine Mutter sieht meinen Vater an, und sie sagt: sag du auch mal was – und mein Vater

                        sagt nichts, und sie sagt: immer dasselbe, nie sagst du was, nicht mal, wenn dein Sohn direkt vor dir steht...

 

Es sei so viel zum Romanende verraten: Unser Held wird den Wald nicht verlassen. Vielmehr ist man dabei, wie er in metaphysische Sphären hinübergleitet, die so schemenhaft bleiben, wie der norwegische Nebel, der hier immer über den Bergen hängt.

 

Mein Fazit nach zwei Wochen Doppelpaket aus Lesen und Reisen: Die langen Juni-Tage auf diesem Breitengrad haben definitiv geholfen, regelmäßig am Abend ein paar Seiten wegzulesen (dank blauer Stunde auch weit nach Mitternacht ohne Zusatzlicht möglich).

Was die literarische Dimension selbst angeht, bin ich zwar durch die Lektüre von „Ein Leuchten“ noch kein erklärter Fosse-Fan geworden, aber das Interesse an weiteren Texten ist auf jeden Fall geweckt. Und davon gibt es reichlich, allein mit der „Heptalogie“ könnte man – wenn man wollte –  jede Menge Zeit verbringen.

 

Die Fosse´sche Prosa, so mein Eindruck, fließt wie das Wasser in den Fjorden beständig, fast stoisch dahin, aber unter der Oberfläche sollte man stets auf Tauchfahrten in die Tiefen der menschlichen Erfahrung gefasst sein. Außerdem imprägniert der Autor seinen Protagonisten mit einer ganz erstaunlichen Eigenschaft: gleichzeitig beunruhigt und gelassen zu sein. Ist das ein genuin norwegischer Zug? Das werde ich vielleicht bei der nächsten Reise herausfinden...

Buchinformation:
Jon Fosse
: „Ein Leuchten“

(Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel)
Rowohlt Verlag, 2023

ISBN: 978-3-498-00399-9

 

 

Text: Annett Jaensch

Fotoserie Mundal: Michael Boomers