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Leiser Schrecken

„Das Loch“: subtiler Schauerroman aus Japan von Hiroko Oyamada

Im Moment türmen sich auf allen Kanälen wieder die Tipps für die besten Sommerbücher. Hoch im Kurs: Locker-flockige Stoffe, die das allgemeine Ausklinken ins „Ich bin dann mal weg“ noch ein bisschen mehr beflügeln. Idealerweise mit einer Gehirnhälfte lesbar, weil die andere sich darauf konzentrieren muss, den kühlen Drink nicht zu verschütten. Dieser Tage mit dabei auf den Short- und Longlists der einschlägigen Empfehlungen: „Das Loch“ von Hiroko Oyamada. Von dem lieblichen Floral-Cover sollte man sich jedoch nicht täuschen lassen. Hinter den unschuldigen rosa Blütenkelchen wartet eine Geschichte, die in ihrem Verlauf mehr triggert, als man nach den ersten Seiten für möglich halten würde.

 

Denn alles beginnt denkbar unaufgeregt. Asahi, eine junge Frau aus Tokyo, zieht mit ihrem Mann wegen seiner neuen Stelle aufs Land. Nicht irgendwohin, sondern ins Nachbarhaus der Schwiegereltern. In Tokyo arbeitete Asahi, aber in dem kleinen Dorf am Fluss richtet sie sich auf das Leben als Hausfrau ein. Kinderlos noch dazu. Entsprechend ereignisarm verlaufen ihre Tage. Doch bald merkt Asahi, dass rund um ihr neues Zuhause einige Dinge seltsam sind. Ständig ist das laute Zirpen der Zikaden zu hören. Der Fluss wirkt nicht wie ein Fluss, sondern wie ein geleeartiges Etwas. Und warum sprengt der stumme Großvater immerfort den Garten, auch im Regen?

 

Gestörtes Sensorium oder gestörte Natur?

 

„The New York Review of Books“ schrieb über die japanische Autorin Folgendes: „Hiroko Oyamadas Romane bewegen sich im Grenzland zwischen Realität und Fantastik. Doch woher kommt der Schrecken in diesen hell erleuchteten, temperaturregulierten Welten? Aus der Natur, oder besser gesagt dem, was so tut, als wäre es Natur.“ Oyamada – die in Japan keine Newcomerin ist, sie gewann bereits den renommierten Akutagawa-Preis – macht auf sehr geschickte Weise die Natur zum locus terribilis. Denn beim Lesen bleibt offen, ob das Sensorium von Asahi gestört ist oder die Natur selbst.

 

Und natürlich gibt es ihn: den einen Plotpunkt, ab dem die Ereigniskurve unberechenbar wird. Asahi folgt bei einem Spaziergang einem seltsamen pechschwarzen Tier, das sie so noch nie gesehen hat (weder Hund noch Katze noch Wildtier, seine Beine ähneln Stöcken). Wenig später fällt sie in ein Loch, das sich so anfühlt, als wäre es für sie gemacht worden.

 

Von da an beginnt Asahis Umgebung sich mit sonderbaren Zeichen aufzuladen. Ihr Mann hat eines Morgens plötzlich weiße Flecken auf dem Rücken. Kinder tauchen aus dem Nichts auf und spielen zuhauf auf den Wiesen rund um das Dorf. In der sirrenden Juli-Hitze kommen immer mehr Tiere zum Vorschein, vor allem Tausendfüßler. Als dann auch noch ein Fremder auftaucht, der sich als Bruder ihres Mannes vorstellt, gerät Asahis Weltbild vollends in Wanken.

 

Hyperrealismus: Der Schlüssel zum Unheimlichen

 

Faszinierend ist, wie Oyamada in ihrem Roman „the uncanny“ entwickelt. Schon Sigmund Freud umkreiste das Unheimliche und kam zu dem Schluss, dass es ursächlich auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht. Oyamada zoomt mittels Hyperrealismus diese Ebene immer wieder extrem heran – Geräusche von Käferbeinen in einem Glas, Essensreste auf Kindermündern – bis sich die Verstörung der Protagonistin und Ich-Erzählerin als feines Krakelee auf der Oberfläche der Realität abzeichnet. Kompliment an dieser Stelle an die Übersetzerin Nora Bierich, die den Text vom Japanischen ins Deutsche geholt hat.

 

Man könnte meinen, dass ein Roman mit solch phantasmagorischem Plot schnell ins Zeitlose driftet. Das Gegenteil ist der Fall. Die Handlung ist messerscharf im Hier und Jetzt der japanischen Gesellschaft verortet, deren Probleme immer wieder aufblitzen. So entpuppt sich der vermeintliche Schwager etwa als Hikikomori. So nennt man in Japan Menschen, zumeist Männer, die sich freiwillig über Jahre hinweg komplett isolieren. Und auch der Klimawandel sagt Hallo in dem namenlosen Dorf in Japan, wenn der brüllend heiße Sommer einfach nicht enden will.

 

Mein Fazit: Horrorfilmgestählte Gemüter werden sich unter Umständen langweilen, weil der Schrecken bei Oyamada eher als minimaldosierter Narrationslenker denn als Suspense-Kracher auftritt. Das Kopfkino kommt trotzdem auf seine Kosten, weil das Buch sehr präzise auf dem schmalen Grat zwischen Fiebertraum und Realitätsausleuchtung balanciert.

 

„Das Loch“, ein Sommerbuch für beide Gehirnhälften.

 

 

Buchinformation:
Hiroko Oyamada
: „Das Loch“

(Übersetzung von Nora Bierich)
Rowohlt Verlag, 2024

ISBN: 978-3-498-00486-6

 

Text: Annett Jaensch