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Summe aller Möglichkeiten

Tanz im August/ Festivalsplitter: „DUB“ von Amala Dianor, „Ausland“ von Jefta van Dinther

Für Tanz-Aficionados ist aktuell wieder der Monat mit akuter Schnappatmungsgefährdung: Das Festival Tanz im August lockt in diesem Jahr mit 18 Produktionen, darunter zehn Deutschland-Premieren. Einer dieser Importe war am zweiten Festivalwochenende im Haus der Berliner Festspiele zu sehen: das Urban-Dance-Stück „DUB“ von Amala Dianor. Der französisch-senegalesische Choreograf hat sich dafür Inspiration beim Hype um die Kurz-Tanzclips in sozialen Medien geholt. Wenn die elf Tänzer und Tänzerinnen, die Dianor weltweit gecastet hat, die Bühne entern, wird schnell klar: Das ist ihr Terrain und es ist eine Hochenergie-Zone. Aus der Mitte des Pulks lösen sich immer wieder einzelne und zeigen Soli oder Duette in Irrwitztempo. Als Zeremonienmeister der hohen BPM-Zahlen steht der Sound-Künstler Awir Leon hinter seinem DJ-Pult am Rand der Bühne und treibt das Geschehen musikalisch voran.

 

Posen und Anfeuern in Halbkreisformation, das erinnert an Street-Dance-Battles, aber in „DUB“ mischen sich noch viel mehr Elemente. Jeder und jede Einzelne aus dem Cast scheint spezielles Expertentum an Moves auf Lager zu haben, das wiederum von der Gruppe aufgenommen wird. Stilistisch surft das Spektrum entlang von Krump, Break-Dance, Voguing, aber auch Pantsula aus Südafrika und Katak aus Indien blitzen auf. Deshalb kann „DUB“– jenseits aller Kampfbegriffsmoralität –  auch als Bekenntnis zur „Appropriation Art“ gelesen werden, denn im Tanz geht nichts ohne Austausch und Anleihen.

 

Ziemlich genau 60 Minuten – die zweite Hälfte spielt sich spektakulär in übereinandergestapelten Kuben ab – dauert diese hyperrasante Verwirbelung der Stile und Moves. Ohne Frage: „DUB“ feiert virtuos und mitreißend das Format der Kurzchoreos als Kunstform, setzt aber außer des zelebrierten Hochleistungsgedankens wenig weitere Akzente. Das Thema des Hinüberschwappens von jugendkulturellen Phänomenen aus der digitalen in die reale Welt und umgekehrt ruft förmlich danach, auch unter die soziokulturelle Lupe genommen zu werden. Das lässt das Gastspiel aus Frankreich ein wenig vermissen, hingerissen ist das Tanz-im-August-Publikum trotzdem.

 

Ganz anders unter die Haut geht dagegen „Ausland“ von Jefta van Dinther. Allein schon der Aufführungsort setzt atmosphärische Maßstäbe: In die schrundigen Wände des Kraftwerks in der Köpenicker Straße sind gleich mehrere Nutzungsschichten eingeschrieben, die eines Industriedenkmals (ehemaliges Heizkraftwerk) und eines Technoclubs (der legendäre „Tresor“ residiert hier). Virtuelle Realitätsfluchten, Deepfakes, unser Verhältnis zu Maschinen: der niederländisch-schwedische Choreograf Jefta van Dinther legt diese thematische Trias über seine neueste Kreation „Ausland“. Was dem Publikum in dieser immersiven Performance geboten wird, ist eine Art Tauchbad ins Irritierende. Denn man weiß bei den lose miteinander verbundenen Szenen nie, wo das Spiel aufhört und wo der Ernst anfängt.

 

Die neun Performer:innen begegnen sich in einer betongrauen, matt ausgeleuchteten Welt. Einer zärtlichen Geste folgt ein Würgegriff, herzergreifende Gesänge treffen auf ausdrucksleere Gesichter. Als wäre der Empathiepegel mal übersteuert, mal untersteuert. Wir sehen zwar menschliche Körper aus Fleisch und Blut, aber wie viel Technologie, respektive technologiebeeinflusstes Bewusstsein hier am Werk ist, bleibt unter der Oberfläche verborgen. Wenn etwa die nackte Louise Dahl ihren Mitperformer Roger Sala Reyner auf kantig-derbe Art auszieht, dann wirkt sie wie eine maschinelle Intelligenz mit verrutschten Algorithmen. „HAL 9000“ lässt grüßen.

 

Ein visueller Sidekick der besonderen Art wartet auf der Mezzanin-Etage des Kraftwerks. Während der gesamten Performance läuft dort ein Animationsfilm in Schwarz-Weiß. Der Held: Eine kindliche Computerspielfigur, die in Dauerschleife durch einen albtraumhaften Parcours rennt. Ist der kleine Player nicht auf der Hut, droht er von Pressen zermalmt oder von Kreissägenblättern zerfetzt zu werden. Irgendwann schiebt sich der Choreograf selbst als Performer zwischen Leinwand und Projektor und nun wird sein Körper zur Spielelandschaft, über den das virtuelle Wesen flieht, rennt, stolpert.

 

Dystopische Poesie erzeugen, man könnte es inzwischen fast schon sein Markenzeichen nennen: Jefta van Dinther tastet mit Vorliebe – wie schon im Vorgängerstück „remachine“ – die Schnittstellen zwischen Humanem und Technoidem ab und hält dabei den Erkenntnishorizont spielerisch in der Schwebe. Dazu passt auch der Titel „Ausland“. Die drei Stunden Umherwandeln zwischen den Betonsäulen des Kraftwerks fühlen sich jedenfalls an, als hätte man Terra Incognita betreten. Mit Realitäten, die sich aufsplittern und Akteur:innen, die mit Fremdheitszuständen kämpfen.

 

Zum Finale zieht der Trupp prozessionsgleich durch die gesamte Länge der Halle und singt „Flow, my tears“ vom Renaissancekomponisten John Dowland. Ein Abend, der nachhallt.

 

Text: Annett Jaensch

 

mehr Infos: https://jeftavandinther.com/