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Neulich auf der Metaebene

Tanz im August/ Festivalsplitter: Kor´sia zeigen „Mont Ventoux“ in der Volksbühne

Kann eine Wanderung die Welt verändern? Im Fall des Mont Ventoux: ja! Der Berg, auch „Riese der Provence“ genannt, ist eine echte Erscheinung: 1910 Meter hoch, karg und windumtost. Im Jahr 1336 bestieg der italienische Dichter Francesco Petrarca den Gipfel. Wobei es nicht bei der bloßen Überwindung von Höhenmetern blieb. Spirituell schlug die Erfahrung derart bei ihm ein, dass er fortan das Felsmassiv symbolisch mit dem Streben nach Wissen und Selbstverwirklichung verknüpfte. Heute gilt Petrarcas alpines Abenteuer inklusive literarischer Reflexion als Geburtsstunde der europäischen Renaissance.

 

Geschichtsträchtiges Terrain also, auf das sich rund 690 Jahre später das Kollektiv Kor´sia begibt, wenn es tänzerisch den Mont Ventoux erklimmt. Ein ziemlich großes Diskurs-Paket will die italienisch-spanische Compagnie dabei auf ihrem Gipfeltrip nach oben befördern, denn laut Begleittext geht es um nicht weniger als „die Suche nach einem neuen Menschenbild, das den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen ist“. Wie lösen die beiden Choreografen Mattia Russo und Antonio de Rosa zusammen mit neun Tänzer:innen dieses kreative Versprechen ein? Mit mächtig viel Effektgewitter, zumindest auf den ersten Blick.

 

Ein Gadget begleitet dabei das Geschehen aufs Ausgiebigste: die Nebelmaschine. In der Glasbox, auf die das Publikum über weite Strecken des Stückes blickt, hängt zu Beginn so viel Haze, dass die Körper im Innern sich nur schemenhaft abzeichnen. Was man mehr erahnt als sieht: wegspreizende Glieder, Tast- und Suchbewegungen, so als erlebten fremde Wesen eine Form von Urkontakt. Kaum lüftet sich der Nebel, treiben peitschende Beats den Trupp über die Bühne. Fliehende Individuen, angespannt bis in die letzte Faser, hasten immer wieder vom Licht ins Dunkel und umgekehrt. Gesellschaftlicher Wandel ist Schwerstarbeit, so scheint die Botschaft.

Für den Wandel in Bewegung, Szene aus „Mont Ventoux“, ©Maria Alperi

 

Auch wenn einige Motive ein wenig plakativ geraten, das Stück und die tänzerische Performance halten einen trotzdem thematisch bei der Stange und visuell in Atem. Denn „Mont Ventoux“ verhandelt auch unsere Conditio humana in dem Sinn, wie die Philosophin Hannah Arendt über sie nachgedacht hat: Wir sind zwar sterblich, aber wir sind Wesen, die fähig sind, einen Anfang zu machen. Und selbst für lichtere Zeiten sorgen können. Womit wir wieder bei Petrarca und dem Sprung vom Mittelalter zur Renaissance wären. In einer Szene schreitet eine Tänzerin in silberglänzender Rüstung wie Jeanne D´Arc persönlich durchs Bild, um sich wenig später ihres Panzers in Zeitlupe zu entledigen. Ein kurzer Moment der Nacktheit und es wirkt, als stünde Botticellis Venus auf der Bühne.

 

Dass Kor´sia gern den Kosmos menschlicher Erfahrung ausleuchten, zeigen auch ihre anderen Produktionen. „Sogni“ etwa stieg in den surrealen Sog des Träumens ein. „Fallen“ knüpfte sich das Thema des Fallens vor, konkret und metaphorisch. „Mont Ventoux“ kreist mit seinem epochenüberspannenden Blick um die Wertschätzung humanistischer Werte. Und wie klingt das Stück aus? Mit viel Unisono-Grandezza und einem Schlussbild, in dem das Ensemble minutenlang eine Pose hält: mit horizontal zur Seite ausgebreiteten Armen. Grüßt hier Da Vinci mit seinem vitruvianischen Menschen? Gut möglich!

 

Text: Annett Jaensch

 

weitere Infos: www.kor-sia.com