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Die Unbehauste

„Der Absprung“: Neuer Roman der jüdisch-russischen Lyrikerin Maria Stepanova

Wie schreiben, wenn die Wörter im Mund zerfallen? Was tun, wenn das eigene Land nur noch für Tod und Zerstörung steht? Diese Fragen treiben die Schriftstellerin M. um und damit ist man schon mittendrin im Handlungskosmos des Romans „Der Absprung“. Die ersten Sätze zoomen mit aller Deutlichkeit den Grund heran, warum wir der Protagonistin im Exil begegnen: der Krieg, den ihr Heimatland Russland gegen die Ukraine angezettelt hat.

 

 „Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen: es wuchs, als ginge es gar nicht anders, wie um ein weiteres Mal zu zeigen, dass es an seiner Absicht festhielt, aus der Erde zu sprießen, ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde.“

 

Zwischen Maria Stepanova, die „Der Absprung“ geschrieben hat, und ihrer Romanheldin gibt es auffallend viele Parallelen. Beide sind Schriftstellerinnen um die Fünfzig, beide leben seit Beginn des Angriffskriegs nicht mehr in Russland, sondern im deutschen Exil. Klar autofiktional sei der Text dennoch nicht, so Stepanova. „Eine Prosa mit einer Protagonistin, die etwas mit mir zu tun hat und auch wieder nicht, war die Rettung für mich“, verriet sie auf einer Lesung im Literarischen Colloquium Berlin. Dass sie anschreibt gegen das Gefühl der Entwurzelung, atmet der Roman an vielen Stellen:

 

            „Nur musste sie, um etwas von der endlosen Liste ihrer Verpflichtungen in Angriff zu nehmen und zu Ende zu bringen,
            im Kopf erst zwei tonnenschwere tektonische Platten zusammenhalten, bis es Klick machte und sie endlich begriff,
            auf welchem Boden sie stand.“

 

Was widerfährt der Schriftstellerin M. nun genau im Buch? Eine Art literarisches Roadmovie, an dessen Ende ein wortwörtlicher „Absprung“ steht, die Verheißung einer neuen Identität. Sie ist zu einem Literaturfestival ins Ausland eingeladen. Aber auf der Bahnfahrt dahin verzahnen sich die Zufälle: Ein Zug fällt aus, sie strandet in der Grenzstadt F., sie verliert das Ladekabel für ihr Handy. Was nach einem Szenario klingt, das sich unter normalen Umständen schnell wieder in geordnete Bahnen lenken ließe, entwickelt sich für unsere Protagonistin alsbald zu einem echten Abenteuer. Und zu einer unverhofften Chance, dem Gedankenkarussell im Kopf eine neue Richtung zu geben.

 

            Das Gefühl des permanenten Fallens, des körperlosen Hindurchstürzens durch Dinge und Menschen, immer tiefer und tiefer,
            unter pausenlosen lächelnden Entschuldigungen, war ihr inzwischen wenn nicht zur Routine, so doch vertraut geworden,
            und sie musste sich anstrengen, um sich zu erinnern, dass das nicht immer so gewesen war.“

 

Denn die Zweifel und das Unbehagen haben längst den Kern der eigenen Identität erreicht. Sogar die eigene Muttersprache flößt nichts anderes mehr als Misstrauen ein: „Wer wusste schon, was ihre zum Kriegführen ins Nachbarland gereisten Landsleute in diesem Moment in dieser Sprache sagten, wie und wen sie im selben Moment umbrachten.“ Nicht umsonst wird im Roman immer wieder das Bild des „Untiers“, des Leviathan bemüht, wenn es um ihr Heimatland Russland geht. Das Gefühl, allein durch ihre Herkunft ein Teil dessen zu sein, erfüllt sie  mit Scham und tiefen Schuldgefühlen.

Lesung am 7. Oktober 2024 im Literarischen Colloquium Berlin, Maria Stepanova (Mitte), Übersetzerin Olga Radetzkaja (links)

 

Wie schafft Maria Stepanova es, die Handlung aus der psychologisch-düsteren Talsohle herauszuführen? Etwas wie Hoffnung durch den Text wehen zu lassen? Indem sie die Protagonistin auf ein Terrain schickt, das zunehmend Züge des Phantastischen trägt. Mit dem toten Akku ihres Handys kappen sich in der fremden Stadt auch die Verbindungen zu ihrer bisherigen Realität und Lebenswelt. In der neuen passieren Dinge, die M. bisher nicht zu träumen gewagt hätte. Sie landet mit einem Fremden in einem Escape-Room, heuert bei einem Wanderzirkus an und am Ende wird aus der alten M. sogar eine neue Figur: A. Damit ist die Welt nicht geheilt, so viel ist klar. Aber es ist eine Welt, in der Neuanfänge, seien sie noch so zaghaft, möglich sind.

 

Maria Stepanovas Prosa ist hohe Erzählkunst: feinsinnig, pointiert, mit überraschenden Bildern, die einen starken narrativen Sog entwickeln. Im Jahr 2022 wollte sie eigentlich einen Essay mit dem Titel „Inside the whale“ schreiben. Stattdessen ist daraus der Roman „Der Absprung“ geworden. Der dank eines mutigen Verlegers sogar in Russland erschienen ist, allerdings mit – zensurtechnisch ein Kuriosum – anderthalb geschwärzten Sätzen. Ob sie noch einen Platz für sich im aktuellen russischen Literaturbetrieb sehe, wurde Stepanova auf der Lesung gefragt: „Nein, ich bin im inneren Widerstand“, so ihre knappe und klare Antwort.

 

Text: Annett Jaensch

 

Buchinformation:

Maria Stepanova: „Der Absprung“
(Übersetzung von Olga Radetzkaja)
Suhrkamp Verlag, 2024
ISBN: 978-3-518-43197-9

Kontakt:

jaensch@rostrot-texte.de

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