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Schwarm-Energie

Das Staatsballett Berlin zeigt neuen Doppelabend „Minus 16“

Körper als Ausrufezeichen: Die Hände fassen an die Kehle, auf hoher halber Spitze geht es in Kleinstschritten durch den Raum, die Glieder sind bis in die letzte Faser gespannt. In Choreografien von Sharon Eyal werden die Tänzer und Tänzerinnen zu einem amorphen Pulk, zu einem wogenden Sinnbild für Kollektivität. „Saaba“ ist die vierte Arbeit der israelischen Choreografin, die das Staatsballett in sein Repertoire aufnimmt. Premiere feierte das Stück allerdings bei der GöteborgsOperans Danskompanie im Jahr 2021, in einer Zeit also, in der die Pandemie noch wie ein Schleier über allem lag. Das mag der Grund sein, warum sich in die technoiden, maschinentanzartigen Muster, die man von Eyal kennt, überraschend viele weiche und verletzliche Momente mischen.

 

Aus dem pochenden Energiefeld der Gruppe lösen sich immer wieder einzelne Tänzer und Tänzerinnen. Gesten der Unschuld und Verunsicherung blitzen hervor, wenn Arme zur Seite und Hände nach vorn gestreckt werden. Überhaupt klammert das Thema Gemeinschaft die Choreografie von Anfang bis Ende zusammen. Unseren Blick darauf lenkt Eyal, indem sie die Formensprache geschickt variiert. Mal ziehen Tänzerinnen einzeln aufgereiht wie auf einer Perlenkette an der Bühnenrampe vorbei, dann wieder wogt das Ensemble in V-Formation auf das Publikum zu. Wer mag, kann das als subtilen Spiegeleffekt auf sich wirken lassen. Dass ihr Stück wie aus einem Guss daherkommt, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Eyal auf bewährte Kollaborationen setzt: der mal treibende, mal fast lyrische Soundtrack kommt von Ori Lichtik, das minimalistische Lichtdesign steuerte Alon Cohen bei.

 

Die legendäre Stuhlkreis-Szene aus „Minus 16“, Foto: Admill Kyler

Ein Mann der choreografierten Ausrufezeichen ist auch Ohad Naharin. Der Israeli, der seine Batsheva Dance Company und die Gaga-Technik weltbekannt  machte, hat „Minus 16“ aus dem Jahr 1999 zur Neu-Einstudierung in die Hände des Staatsballetts gegeben. „Ich versuche, Raum für starke Gefühle zu schaffen“, sagt Naharin über seinen künstlerischen Ansatz. Der riesige Stuhlkreis am Anfang des Stückes, eine der Signature-Szenen von „Minus 16“, macht plastisch, welche Art von Resonanzboden der Choreograf schafft, um dieses Ziel zu erreichen. Mehr als 20 Tänzer*innen in schwarzen Anzügen bewegen sich wellenförmig in einem immer dynamischer werdenden Flow und skandieren dabei Verse aus „Echad Mi Yodea“, einem jüdisches Pessach-Lied. In einem impulsiven Akt entledigen sie sich schließlich ihrer Anzüge und schleudern sie in die Mitte. Befreiung, Ekstase, Kraft des Kollektivs: Bei Naharin kommen die Bedeutungschiffren sehr oft als Paukenschlag durch die Vordertür.

 

Natürlich wandern die Gedankengänge auch zum politischen Zeitgeschehen, wenn man dieser Tage in einem Stück von einem israelischen Choreografen sitzt. Naharins Selbstauskunft lautete zwar immer, er sei ein unpolitischer Künstler, aber seine Stücke warten regelmäßig mit Motiven auf, die sich eben auch als Kommentar auf die Situation in seinem Heimatland lesen lassen, wie etwa „Last work“ aus dem Jahr 2015. Im Januar wird ein weiteres Stück von ihm in Berlin zu sehen sein: Die Batsheva Dance Company zeigt „Momo“ aus dem Jahr 2022. Man darf gespannt sein, welchen künstlerischen Zeitstempel diese Arbeit tragen wird.

 

Aber zurück zum kreativen Kosmos von „Minus 16“:  Es sind die Individualität und die persönlichen Geschichten der Tänzer und Tänzerinnen, die im zweiten Teil für eine gehörige Portion Weichzeichnung sorgen. In Form von Stand-up-Soli geben sie Persönlichkeitssplitter preis: Matthew lässt wissen, dass sein Ehemann gut kochen kann. Cohen beichtet, dass es ihm schwerfällt, mit Menschen zu sprechen, aber dass er tanzend alles ausdrücken kann. Und Vera erzählt, dass ihre Primaballerina-Mutter sich lange geweigert hat, zu ihren Aufführungen zu kommen. „Minus 16“ endet, wie es begonnen hat: mit einer frenetischen Gruppenszene. Nur dieses Mal wird auch ein Teil des Publikums zum Mittanzen auf die Bühne geholt. Großer Spaß und Riesen-Applaus!

 

Text: Annett Jaensch

 

 

 

 

 

 

 

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