Booker Prize-Gewinnerin 2024: Samantha Harvey und ihr Roman „Umlaufbahnen“

Dieses Buch ist ein Glücksfall. Normalerweise presche ich nicht so früh im Text mit dem Fazit nach vorn, aber der Raumfahrt-Roman von Samantha Harvey hat für mich das ausklingende Jahr 2024 gerettet. Dieses Jahr mit den Nachrichtenspiralen, die nicht aufhörten, sich in immer irrer werdende Windungen zu drehen. Mit den Veränderungen auf der politischen Bühne, die einen ratlos mit der Frage zurücklassen: Ist die Welt noch bei Verstand?
Aber was macht „Umlaufbahnen“ („Orbital“ im Originaltitel) zu einem so besonderen Buch? Warum fühlt man sich auf eigentümliche Weise getröstet, eine durchs schwarze All rasende Raumkapsel lesend zu begleiten? Die äußere Handlung ist schnell erzählt: Sechs Astronaut:innen, vier Männer und zwei Frauen, befinden sich an Bord einer internationalen Raumstation. Die Plotzeit: 24 Stunden, in denen die Crew 16 Umlaufbahnen um die Erde absolviert. Und genauso viele Sonnenauf- und -untergänge erlebt, die sich auf ganz eigene Art in ihre menschliche Wahrnehmung fräsen:
„Ein neuer Tag. Aber einer, der fünf Kontinente mit sich bringt, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüsten, Wildnis und Kriegsgebiete. Während sie die Erde umrunden, durch Anhäufungen von Licht und Dunkelheit reisen, sich der verwirrenden Arithmetik von Schubkraft und Fluglage, der Geschwindigkeit und den Sensoren hingeben, ertönt alle neunzig Minuten der Peitschenknall eines neuen Morgens.“
Paradoxien an Bord
Die namenlose, an die ISS erinnernde Raumstation jagt mit 27.000 Kilometern pro Stunde durch den erdnahen Orbit. Da beginnen nicht nur lose Dinge durch die Schwerelosigkeit zu gleiten, sondern auch die Gedankenwelt der Menschen an Bord gerät ins Driften. Was Paradoxien gebiert: Sie verspüren starke Sehnsucht nach dem, was sie auf dem Boden zurückgelassen haben. Andererseits ist das All als Erfahrung so einzigartig, dass sie am liebsten für immer weiterkreisen würden. Und Blicke auf die Erde werfen würden, wie diesen hier:
Diesiges blassgrün schimmerndes Meer, diesiges orangerotes Land. Afrika, von Licht durchdrungen. Im Innern des Raumschiffs kann man es fast hören, dieses Licht. Gran Canarias steile, strahlenförmige Schluchten schichten die Insel auf wie eine eilig gebaute Sandburg, und als das Atlasgebirge das Ende der Wüste ankündigt, erscheinen Wolken in Form eines Hais, dessen Schwanzflosse die Südküste Spaniens antippt.
Der Roman ist durchzogen von Schilderungen dieser Art und damit ist klar: Die eigentliche Protagonistin ist die Erde selbst. Diese blaue Murmel im unendlichen Nichts, die uns Menschheit beherbergt. Bei Tag wirkt es fast so, als wäre der Planet unbewohnt. Doch bei näherem Hinsehen fallen sie auf: die Überformungen und Spuren exzessiven menschlichen Tuns. Eine gigantische Algenblüte hier, geografische Begradigungen da. Und nachts pulsen die zivilisatorischen Fußabdrücke wie gleißende Lichtinseln bis hinauf ins All.
Ohne Lamento und appellativen Furor
Was auf der Erde passiert, erreicht die Raumfahrer allenfalls als fernes Echo: Die Japanerin in der Crew muss mit dem Tod ihrer Mutter klarkommen, über den Philippinen braut sich ein Monstertaifun zusammen. Doch Verharren gibt es nicht, die nächste Umlaufbahn trägt das Schiff und alles in ihm weiter.
Zu spüren ist das schwebende, vorwärtsrollende Element auch in Harveys Sprache, kongenial ins Deutsche geholt von Julia Wolf. Mal wirkt der Text wie ein meditatives Langgedicht, mal essayistisch. Und hier beginnt Harveys große Erzählkunst: Ohne Lamento und appellativen Furor schafft sie es, das Prekäre und Bedrohte der Welt in einen Roman zu gießen, der trotzdem auch Raum für Hoffnung lässt.
„With her language of lyricism and acuity Harvey makes our world strange and new for us“, begründete die Booker Prize-Jury ihre Wahl im vergangenen November. Wie wahr!
Text: Annett Jaensch
Samantha
Harvey: „Umlaufbahnen“
(Übersetzung
von Julia Wolf)
dtv, 2024
ISBN: 978-3-423-28423-3
Hier geht´s zu einer kleinen Kostprobe aus dem englischen Originaltext „Orbital“,
gelesen von Will Poulter...