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Am Rand der Welt

Der Roman „Air“ von Christian Kracht

Über die hohe Kunst des Einstiegs in einen Roman ist schon viel geschrieben worden. Im besten Fall schwingt mit dem ersten Satz eine Tür auf, durch die wir direkt im jeweiligen Erzählkosmos landen. „Air“ liefert in dem Sinne einen typischen Kracht: „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich.“ Eine Behauptung von Drama, die mit dem nächsten Halbsatz schon wieder in sich zusammenfällt. Ironischer Unterdruck als poetisches Prinzip sozusagen.

 

Von „Faserland“ bis „Eurotrash“: Christian Kracht hat schon so einige autofiktional gefärbte Anti-Helden durch den popliterarischen Pool schwimmen lassen. In „Air“ treffen wir Paul, einen Innenarchitekten aus der Schweiz. Dessen eigenes Innenleben, wenig überraschend, auf Zurückgezogenheit gepolt ist. Paul lebt allein in Stromness, einer kleinen Stadt auf den Orkney-Inseln, nur eine einäugige Katze leistet ihm Gesellschaft. Als ein bekanntes Design-Magazin ihn bittet, für ein norwegisches Datencenter „das perfekte Weiß“ zu finden, macht er sich umgehend auf den Weg.

 

Wenn Christian Kracht einen Plot ausrollt, dann imprägniert er ihn mit einer Vielzahl an Anspielungen und Bedeutungsschichten. Was zuverlässig bei jedem Buch aufs Neue für heftiges Feuilleton-Rauschen und verzweigte Auslegungsdiskurse sorgt. Das ist auch nicht anders bei „Air“: Bevor Paul überhaupt in das Flugzeug nach Norwegen gestiegen ist, hat uns der Autor schon jede Menge Inhaltskrumen und Zitate hingestreut, die wir entschlüsseln dürfen. So winken etwa William Butler Yeats, Edgar Allan Poe und Astrid Lindgren als Stichwortgeber aus der Ferne. Auch Pauls Umfeld in Stromness atmet eine enorme Detaildichte, die uns den Protagonisten irgendwo zwischen Ennui und spleenigem Individualismus präsentiert. Wie sonst sollte man jemanden lesen, der für einen Laib Sauerteigbrot über die halbe Insel radelt, um es dann „mit dem extrascharfen Riffelmesser aus Kyoto“ zu schneiden und sein Butterbrot schließlich mit „Blackthorn Salt“ final zu veredeln?

 

Ikonografischer Dreh-und Angelpunkt in „Air“: Gemälde „Merlin and Lancelot“ von James Archer (Quelle: wikiart.org)

 

Dass ausgerechnet das Gemälde „Merlin and Lancelot“ von James Archer – ein Geschenk von einem zufriedenen Kunden – in Pauls stilllebentauglichen Wohnzimmer hängt, ist natürlich auch kein Zufall.

 

„Der Zauberer Merlin war in eine lange helle Kutte gekleidet, und eine weiße Kapuze bedeckte seinen Hinterkopf und verbarg auch sein Gesicht. Am Himmel waren die verglühende Abendsonne zu sehen und ein paar hingehuschte Wolken. Merlin schritt, Sandalen an den Füßen, selbstbewußt und emphatisch dem Ritter Lancelot auf dem Pfad voraus. Lancelot, der seltsam müde, phlegmatisch und versunken im Sattel eines ebenso müden schwarzen Pferdes saß und sich von Merlin den Weg hinüber ins Schattenreich weisen ließ, ritt dem Zauberer nach, links aus dem Bild hinaus.“

 

Ein Bild wie ein Portal in eine andere Welt und bald blendet sie sich tatsächlich ein: die zweite, phantastische Plotebene. Ein mittelalterlich anmutendes Anderreich, in dem die neunjährige Ildr wohnt, die mit Pfeil und Bogen schießt und aus Versehen einen Fremden verwundet. Ist es ein Traum von Paul? Ein Zeitreise-Twist? Kracht lässt uns anfangs mit diesen Intermezzi noch etwas im Unklaren, bis sich die Ereignisse nach Norwegen verlagern. Paul lernt in Stavanger Cohen kennen, den Chefredakteur des Stil-Magazins „Kūki“ was auf Japanisch – Achtung! – so viel heißt wie „Luft“ oder eben „Air“. Und Cohen hat den perfekten Auftrag für Paul, den Puristen: alles weiß malen in einer riesigen Cloudspeicher-Halle, dem digitalen Gedächtnis der Menschheit.

 

„Jede einzelne Fotografie der jährlichen Trillionen mit Mobiltelefonen aufgenommenen Erinnerungen werde dort aufbewahrt. Immense Speicherkapazitäten seien das, alle Hochzeiten, die Kirschblütenzeit in Japan, alle Geburten, Reaktorunfälle, Insektenschwärme, kleine Katzenbabys, die mit Wollknäueln spielten, Kriegsversehrte, Palmen im Sonnenuntergang, 5 Milliarden Fotos am Tag. Er solle sich das bitte mal ansehen. Das sei ein Auftrag, natürlich gut bezahlt.“

 

Der Autor und die Kunst des Verschwindens: Christian Kracht in Chiaroscuro auf dem Umschlag seines neuen Romans „Air“

 

Doch als Paul das gut gesicherte, von acht Grad kaltem Fjordwasser gekühlte Green Mountain Data Centre betritt, passiert etwas ganz und gar Singuläres: Zeitgleich rast ein von einer starken Sonneneruption ausgelöster Magnetsturm auf die Erde zu und wird wenig später für einen Stromausfall im Cloudsystem sorgen. Kracht baut im wahrsten Sinne des Wortes noch einen weiteren Kurzschluss ein, nämlich im Erzählfluss. Denn Paul ist plötzlich: verschwunden!

 

Bisher war die Geschichte rund um das Mädchen Ildr ein rätselhafter Sidekick zum Hier und Jetzt von Paul. In der zweiten Hälfte gleitet „Air“ umstandslos hinüber in diese Welt und wird zu einem Hybriden zwischen Märchen und Heldensage. Der Fremde ist niemand anderes als Paul, der zusammen mit Ildr vor einem finsteren Herzog immer weiter in den Süden flieht. In ein arktisch kaltes Land, wo die Sonne im Westen aufgeht, wo die sagenumwobenen Bewohner der noch sagenumwobeneren Steinstadt wohnen. Kracht zelebriert den ultimativen Eskapismus, indem er seine Akteure bis an den Rand der Welt schickt und darüber hinaus. Auf welche Art und Weise Merlin und Lancelot wieder auf der Bildfläche erscheinen und welche Verbindung es zu Barnhill gibt, dem Haus auf der Hebriden-Insel Jura, in dem Orwell seinen Roman „1984“ schrieb, hält das Romanende dann auch noch parat. Soviel sei verraten: Der Kreis schließt sich, auf Kracht´sche Art.

 

 

Text: Annett Jaensch

 

 

Buchinformationen:

Christian Kracht: „Air“
Kiepenheuer & Witsch, 2025
ISBN: 978-3-462-00457-1

 

 

 

 

 

 

 

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